Ein Mann hört ein Geräusch, aber ich höre es nicht. Und nun?
Ich habe als Lokaljournalist angefangen und ich werde voraussichtlich als Lokaljournalist sterben. Zwar schreibe ich auch für die überregionale Qualitätspresse, aber eigentlich mache ich nichts lieber, als den Leuten davon zu berichten, was ihre Nachbar:innen so treiben.
Im Lokaljournalismus gehört das Genre „Anwohner beschwert/beklagt sich über…“ zu den Kernbestandteilen der Berichterstattung. Idealerweise beschweren sie sich über etwas, für das die Stadtverwaltung verantwortlich ist oder gegen das sie zumindest nicht genug unternimmt. Mehrere Male habe ich für die „Westdeutsche Zeitung“ einen Mann aus Krefeld getroffen, der sich von einem unregelmäßigen Brummen verfolgt fühlt. Nicht nur in seiner Wohnung, sondern auch drumherum. Ich selbst konnte dieses Geräusch nie hören. Er vermutet, dass eine Luftwärmepumpe Schuld hat.
Als ich mich daran machte, den Text zu schreiben, musste ich einerseits seine Position angemessen darstellen, andererseits aber auch die Möglichkeit offen lassen, dass das Geräusch gar nicht irgendwo in der Stadt entsteht, sondern in seinem Kopf, es sich also um einen Tinnitus handelt. Viel zu häufig entscheiden wir Lokaljournalist:innen uns für den einfachen Weg: alles so zu übernehmen, wie es die Betroffenen schildern, vor allem, wenn es gegen die Stadt geht. Vielleicht, weil uns die Zeit fehlt, vielleicht, weil eine eindeutige Story mehr Klicks bringt. Vielleicht, weil wir die Protagonist:innen schützen wollen. Viel wichtiger aber ist es, sie ernst zu nehmen. Das heißt auch: Was sie sagen, zu prüfen.
Darauf hinzuweisen, es könne sich auch um einen Tinnitus handeln, war mir in diesem Fall besonders wichtig, weil andere von einem rätselhaften Geräusch Betroffene den Artikel ebenfalls lesen könnten. Im besten Fall überprüfen sie zumindest mal, ob das Brummen nicht in ihren eigenen Ohren entsteht. Sonst wären sie bloß darin bestärkt worden, es müsse auf jeden Fall irgendein Gerät sein, das sie plagt. Damit wäre niemandem geholfen.
Der Text ist hier erschienen (keine Paywall).