Es war Samstagabend, ich war allein und deshalb habe ich mich an einen alten Text erinnert.
Gestern Abend, der ein Samstagabend war, der sich so anfühlte wie ein einsamer Samstagabend früher, musste ich an den Text denken, den ich im Sommer 2019 für die Rheinische Post über mein Alleinwohnen und mein Alleinsein geschrieben hatte. Er war zwar nicht als Hilferuf gedacht, aber mit der Distanz von fast vier Jahren kommt es mir unglaublich vor, dass sich genau eine Person aus meinem Unternehmen meldete und fragte, ob ich Hilfe bräuchte oder jemanden zum Reden. Kein Chef, kein Vorgesetzter, sondern eine Frau aus einer völlig anderen Abteilung, die ich überhaupt nicht kannte. Danke noch mal. Du weißt, wer du bist.
Drei Monate später kündigte ich zum ersten Mal in meinem Leben, und es war das beste, was ich in den vergangenen zehn Jahren gemacht habe (außer die Frau aus Krefeld kennenzulernen und nicht mehr herzugeben). Der Kerl, der die Personalverantwortung hatte, fragte, ob ich nicht noch wenigstens 1-2 Monate länger bleiben könne. Es ging ihm selbstverständlich nicht um mich. Er hatte bloß Sorge, so schnell keinen Ersatz zu finden. Ich sagte, ich bin unglücklich. 20 Jahre für ein Unternehmen, bloß um zu lernen, dass man sein Herzblut für etwas Besseres hergeben sollte als einen Job. Über die genauen Umstände meiner Kündigung habe ich für den “Journalist” hier einen Beitrag geschrieben.
Der Text steht mittlerweile hinter einer Paywall, aber da er mir gehört, steht er jetzt auch hier, ein paar Zeilen weiter unten. Macht euch um mich keine Sorgen, aber fragt Leute lieber einmal zu viel als zu wenig, ob es ihnen gutgeht.
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Ganz schön allein
Seit 16 Jahren niemand da. Unser Autor ist nach dem Auszug von Zuhause nie mit jemandem zusammengezogen. Lange Zeit hatte er damit kein Problem.
Als ich ein Junge war, sah ich einen Mann, der Zwiebelringe aß. Immer wieder blickte ich zu ihm, man kann auch sagen, ich starrte. Meine Familie und ich hatten eine Radtour gemacht, abends gingen wir ins Café der Jugendherberge. Ein paar Meter von uns entfernt saß dieser junge Kerl allein an einem Tisch, vor ihm lag eine Tüte mit Zwiebelringen. Ich hatte ihn schon am Nachmittag bemerkt. Er war mit dem Rad unterwegs und reiste ohne Begleitung. Der Mann sah niedergeschlagen aus. Er schien die Zwiebelringe nicht mit Genuss zu essen, sondern als ob es eine große Anstrengung erforderte. Ich überlegte, ihn zu uns an den Tisch einzuladen, ließ es aber doch. Vielleicht hatte ich Angst vor seiner Reaktion. Vielleicht auch davor, dass die Einsamkeit, die von ihm ausging, uns alle verschlingen würde. Wie bedauerlich musste das Leben sein, das er führte?
Der letzte Tag, an dem ich nicht allein wohnte, war ein Samstag vor beinahe 16 Jahren. Am Sonntag nahm ich den Zug in die große Stadt, um mein Studium zu beginnen. Die Songs aus den Kopfhörern drückten mir die Kehle zu. In meinem Studentenzimmer – 14 Quadratmeter mit Waschbecken und Kühlschrank; Dusche und Toilette auf dem Etagenflur – lag ein Zettel. Meine Mutter wünschte mir alles Gute. Abends traf ich einen Freund in einer Kneipe, damit war die Trauerarbeit abgeschlossen. Fünf Jahre später zog ich in eine andere Stadt. 34 Quadratmeter, Dusche und Toilette auf meinem eigenen Flur. Das Bett von 90 Zentimetern Breite nahm ich mit. In dieser Wohnung wohne ich bis heute. In den vergangenen drei Jahren sind mehr Leute vorbeigekommen, um einen Rauchmelder anzubringen, als um mich zu besuchen. Das liegt nicht an den Leuten. Meine Wohnung ist meine Burg.
Unter der Woche begegne ich Leuten fast ausschließlich auf der Arbeit, am Wochenende treffe ich sie dann und wann. Meine Freunde wohnen beinahe allesamt in anderen Städten, meine Familie sowieso. An Samstagen gehe ich regelmäßig allein durchs Shoppingcenter und beobachte Paare und Familien beim Verzehr gebratener Nudeln, ohne Neid, bisweilen heilfroh. An Samstagabenden schaue ich bevorzugt ein bis zwei Filme und gehe weit vor Mitternacht schlafen. Im vergangenen Jahr bin ich allein mit dem Rad durch Holland gefahren und werde es in diesem Sommer wieder tun. Selbstverständlich träume ich nicht von Ibiza im Sommer, sondern den Färöern im November. Island ist mir zu überlaufen. Dieser Text entsteht mit Blick auf ein Zuckerrübenfeld, hinter mir ein Wäldchen. Ab und zu joggt jemand vorbei.
Die Beziehungen, die ich führte, begann ich euphorisch. Nach einer Weile mochte ich die Frau zwar noch immer sehr, aber den nächsten Schritt machen wollte ich nie. Ich verstand schon nicht, warum wir uns jedes Wochenende sehen sollten. Eine gemeinsame Wohnung schien mir unvorstellbar. Ihr nicht. Damit war das Ende besiegelt. Trennungen überwand ich zügig. Das hatte nichts mit den Frauen zu tun, sondern damit, dass ich sie ohnehin nur ein bisschen in mein Leben gelassen hatte.
Jeder Mensch braucht etwas Zeit für sich, ich brauche sehr viel Zeit für mich. Mein Bedürfnis, lange Abschnitte des Tages nicht behelligt zu werden, ist groß. Ich fühle mich sonst schon körperlich beengt. Und Zusammenwohnen ist für mich die stärkste Form der Behelligung. Ich möchte nicht mit anderen verschwimmen, unter anderen verschwinden. Die in der Pubertät übliche Horrorvorstellung, so zu werden wie alle, hat in mir überlebt. Selbst in Menschengruppen versuche ich, mir die Leute mit einer Festung aus Be- und Verurteilungen vom Leib zu halten. Keine Ahnung, wie ich es ausdrücken soll, ohne dass es völlig abgehoben klingt, aber dieses Bedürfnis hängt auch damit zusammen, dass ich ständig was zu grübeln habe. Irgendwas rattert immer. Ich folge Gedanken, finde auf dem Weg neue und hoffe, dass sie meine eigenen sind. Für die Welt ist es auch ganz gut, nicht so häufig von mir behelligt zu werden. Sie könnte schlechte Laune bekommen.
Früh lernte ich, dass der Zustand, allein zu leben, nicht ins Unglück führen muss. Das hat mit M. zu tun, einer guten Freundin meiner Mutter. Sie besuchte uns regelmäßig, und irgendwann fiel mir auf, dass da nie ein Mann an ihrer Seite war, und als wir sie besuchten, war da auch niemand. Meine Mutter sagte mir, dass das nie anders gewesen war. Doch schien M. unter diesem Zustand nie zu leiden. Sie hatte offenbar alles, was sie brauchte.
Aber obwohl ich allein wohne, bin ich kein Einsiedler. Ich brauche die Welt zu sehr, um mich auf Dauer von ihr fernzuhalten. Aus mir selbst schöpfen geht nur, wenn vorher etwas reingefüllt wurde. Ich rede mit wenigen Menschen gern, aber mit denen sehr gern. Ich brauche Anerkennung. Ich gehe einem Beruf nach, der darauf ausgelegt ist, andere Leute zu erreichen. Und diese Leute dann wiederum mich. Deshalb verhandele ich ständig mit mir selbst, wie lange ich meine Festung verlassen will, wie weit ich mich in die Welt der Menschen vorwagen möchte. Und doch ist die Notwendigkeit, nicht behelligt zu werden, immer größer gewesen als das Bedürfnis, dauerhaft jemanden an meiner Seite zu haben.
Dies ist trotzdem kein bedingungsloses Plädoyer fürs Alleinleben, höchstens eines mit angezogener Handbremse. Ich weiß es nämlich gerade selbst nicht. Vielleicht hat es sich an den Samstagabenden mit dem Netflix-Account angekündigt, an denen ich dachte: Alle anderen machen jetzt was, und was machst du? Diese Samstagabende waren schon immer die Ritzen, durch die die Einsamkeit drang, also das Leiden am Alleinsein. Diese Gedanken am Samstagabend sind häufiger geworden, ihre Wirkung stärker. Mein Leben kippelt gerade in einem Ausmaß, das mir bisher unbekannt war. Wie das eben ist, wenn man die 30 klar überschritten hat und auf das schaut, was man erreicht hat, und es mit dem vergleicht, was man erreichen wollte. Und dann ist da diese Lücke. Wer hätte in einem finsteren Tal nicht so viele Verbündete wie möglich an seiner Seite? Mit jemandem zusammenzuleben, ist der leichteste Weg, sich täglich eines Verbündeten zu versichern. Alleine wohnen erhöht das Risiko, sich einsam zu fühlen. Gegen die dunklen Momente brauche auch ich die Gewissheit, zu irgendwem oder irgendwas zu gehören. Nicht nur allein zu wohnen, sondern allein zu sein, weil man mit niemandem etwas teilt, das wäre das Ende.
Mir fällt da nur dieses vielleicht läppische Beispiel ein, als ich vor einigen Wochen mit dem Rad durch Holland fuhr. Eigentlich bin ich als Radfahrer in der Minderheit, jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit 10.000 Autofahrer und ich. An diesem Tag in Holland aber – es war der hügelige Süden, der Frühsommer lag im Tal – waren wir in der Mehrheit. Tausende ehrgeizige Radfahrer im Schweiß vereint. Wer mich überholte, wurde ein Verbündeter. Es fehlte nur noch, dass mir jemand den Kopf tätschelte. Ich fühlte mich geborgen, aber nicht verschlungen.
Darüber wollte ich mit M. reden. Ich wollte wissen, wie sie es seit Jahrzehnten schafft, allein zu leben. Meine Mutter versprach zu vermitteln. Ein paar Tage später sagte sie mir, sie habe M. angerufen und gefragt. Diese habe abgelehnt und sofort das Thema gewechselt.